Sonntag, 20. November 2011
Fotoalbum: Die Kunst der Vergänglichkeit
Die Kultusse schmökert in ihrer Lieblingsbroki und greift nach einem alten Buch, das sie magisch anzieht. "Kosakengeschichten" entziffert sie die alte Schrift und öffnet das Buch erwartungsvoll. Was herausfällt, ist nicht eine neue Erkenntnis über Kosaken, sondern ein altes Familienfoto, aufgenommen im Oktober 1972. Obwohl es zuerst die schönen Kostüme der Damen sind, welche die Aufmerksamkeit der Kultusse auf sich ziehen, bleibt ihr Blick schliesslich auf den Hasenohren haften, die ein schelmischer Herr im grauen Anzug der Oma verpasst. Das Kind im Vordergrund mag hingegen nicht in die Kamera schauen, und als ebendiese zuschlägt, hat auch der junge Papa seinen Blick abgewandt. Eine herrliche Komposition, wie sie nur der Zufall schafft!
Zuhause betrachtet die Kultusse die Fotografie so lange, bis sie glaubt, selbst Teil jener Familie zu sein, die sich während der Aufnahme in südlichen Gefilden aufgehalten haben muss - vielleicht im Tessin? Und sie erinnert sich an Kathleen Bühlers Ausstellung "Ego Documents", die im November 2008 im Kunstmuseum Bern eröffnete. Und an die dort ausgestellten, filigranen Zeichnungen, die Laura Lancaster (1979) nach gefundenen Familienfotografien geschaffen hat.
Die Kultusse wird etwas traurig und nimmt die Fotografie zum x-ten Mal hervor. Fragen, die Kunst häufig anregt, verdrängen die Freude an den Hasenohren: Leben die Personen auf dem Bild noch? Sind sie krank geworden, hatten sie Trennungen oder Unfälle zu verkraften? Waren sie im Moment der Aufnahme wirklich glücklich oder lächelten sie nur gezwungen für diesen einen Schnappschuss?
Eine Fotografie ist ein Andenken, immer aber auch ein Dokument der Vergänglichkeit. Kein Wunder, gibt es Kulturen, in denen sich die Menschen nicht fotografien lassen, weil sie sich davor fürchten, ihre Seele würde vom Papier gefangen genommen. Es gibt aber auch das andere Extrem, die Totenbücher, in denen Abbildungen von verstorbenen Geliebten gesammelt werden - um einen Teil von ihnen am Leben zu erhalten.
So wird dieser spontane Brokibesuch zu einem nachhaltigen, welcher der Kultusse vor Augen führt, dass Kunst nicht nur im Museum anzutreffen ist - sondern manchmal auch ganz unerwartet zwischen zwei Buchdeckeln.
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