Donnerstag, 31. Mai 2012

"Industrious" vs. "Zarina Bhimji"


Zehn Gründe, warum die Retrospektive der englischen Foto- und Videokünstlerin Zarina Bhimji im Kunstmuseum besser ist, als die Fotoausstellung „Industrious“, die zuvor in den gleichen Räumen gezeigt wurde:

1.   Die Fotografen Marco Grob und hiepler, brunier, schufen für „Industrious“ ausdrucksstarke Arbeiterporträts und mystische Werkfotografien – doch wirkten die Aufnahmen zu glatt, um sich daran zu reiben. Zarina Bhimjis Foto- und Videoarbeiten haben ein weniger enges formales Korsett. Mal schafft sie grosse Polaroidaufnahmen, mal Fotografien im Leuchtkasten, mal Serien auf denen Häuser, Gartenanlagen, Waffenstillleben oder Details wie Augen und Haarbüschel zu sehen sind. Die Aufnahmen wirken beklemmend, auch wenn der Betrachter auf den ersten Blick nicht weiss, in welchem historischen Kontext sie zu verorten sind.

2.   Die Geschichte hinter den Arbeiten von Bhimji ist interessanter. Grob und hiepler, brunier, wurden vom Baustoffkonzern Holcim beauftragt, zum 100-jährigen Firmenbestehen Aufnahmen zu machen. Bhimji verflechtet seit rund 25 Jahren ihre eigene Biografie mit der Zeitgeschichte. Die Künstlerin wurde 1963 in Uganda als Kind indischer Einwanderer geboren. Anfang Siebzigerjahre, als Idi Amin – „The Last Kind of Scotland“ – an die Macht kam, wurden alle asiatischstämmigen Bewohner vertrieben und enteignet. Die Künstlerin flüchtete mit ihrer Familie nach London. Seither kreist ihr künstlerisches Werk um Themen wie Entwurzelung, Kolonialisierung, Fremde.

3.   Die Ausstellung passt zur konsequenten Programmierung, die Gegenwartskuratorin Kathleen Bühler am Kunstmuseum Bern verfolgt: Ihre allererste Ausstellung in Bern, „Ego Documents“ drehte sich um das, was Bhimji in ihrem Werk verfolgt: Die Künstlerbiografie als Ausgangspunkt für eine universelle Bildsprache nehmen. Die mit dem Swiss Exhibition Award ausgezeichnete Ausstellung „Dislocación“ behandelte letztes Jahr ebenfalls das Thema Entwurzelung.

4.   Die Retrospektive von Zarina Bhimji nimmt eine wichtige Funktion von Kunst wahr: Sie ist kritisch, ohne zu moralisieren. Während bei „Industrious“ die teils unmenschlichen Arbeitsbedingungen nicht kritisiert wurden (bzw. nicht kritisiert werden konnten), thematisiert Bhimji Enteignung, Krieg oder Gewalt gegen Frauen. Etwa, indem sie blutige Handschuhe zeigt, mit denen indische Einwanderinnen in Uganda einen Jungfräulichkeitstest über sich ergehen lassen mussten.

5.   Die Ausstellung ist eine in Zusammenarbeit mit der Whitechapel Gallery (London) entstandene Retrospektive und keine Auftragskunst für ein Firmenjubiläum.

Die Retrospektive läuft bis am 2. September im Kunstmuseum Bern. Vernissage: 31.5. ab 18.30h. 

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